Klangvoll

Diese Augen hatte niemand. Ein tiefes leuchtendes Veilchenblau unter einer breiten Stirn. Auch die Stimme fand sie nicht wieder. Manchmal zuckte sie zusammen, mitten in einer Menschenmenge – da war sie, genauso? Ähnlich? Dieser volle warme Klang mit den eigenartigen weichen Schwingungen. Sie war so beruhigend, wenn er sie in den Schlaf schaukelte, an langen Sommerabenden. Und sprach er mit ihr, spürte sie, so klein sie war, dass er sorgfältigk nach Worten und Bildern suchte, die sie verstand.

 

Zeit der Angst

Dann aber kam die Zeit der Angst, das flüsternde Gespräch der Erwachsenen, abends, im Nebenraum. Kein Lachen mehr. Bedrückte Gesichter. Und eines Nachts – knallendes Türenschlagen, schnelle Schritte und fremde Menschen, die plötzlich das ganze Haus bevölkerten, laute Befehle, heftiger Wortwechsel – und erst nach vielen Stunden Schweigen. Die Eltern blass, ohne Stimme.

Herausgerissen

Und schließlich der furchtbare Tag, an dem man ihn abholte. Er hatte sie noch einmal hochgehoben und fest an sich gedrückt. Das war das Ende. Man riss ihn aus der Familie, man nahm ihn weg, man löschte ihn aus.

Kein Zurück

Verteidigung, Gerechtigkeit – leere Worte. Diese Leute kannten sie nicht. Sie waren wie Roboter, ohne Gefühl, ohne Herz. Sie funktionierten, sie handelten. Was bedeutete ihnen schon ein Menschenleben?

Zurück blieb Entsetzen, Verzweiflung, Leere. Sie konnte und wollte es nicht begreifen! Kam der Vater heute nicht wieder, dann doch morgen, übermorgen jedenfalls bestimmt. – Aber er kam nicht. Da, wo er war, gab es kein Zurück.

Wo ist dein Vater?

Fünf Jahre alt sein und plötzlich nicht mehr „Vater“ sagen können. Die eine Hand hatte sie beim Spazierengehen der Mutter gegeben, die andere ihm. Jetzt hing sie herunter, als würde sie nicht mehr gebraucht. Andere Kinder sagten: „Meine Eltern“. Sie stockte und lief weg, wenn man sie fragte: „Und wo ist dein Vater?“

Sie suchte ihn Jahr um Jahr. Die Elternabende in der Schule, ohne ihn. Die Zensuren, die Zeugnisse, er sah sie nicht. Der Abschlussball, der erste Walzer, er konnte ihn nicht mit ihr tanzen.

Geborenheit

Geborgenheit will wachsen wie ein Baum, unter dem man Schatten sucht. Aber wenn der Baum nicht mehr wachsen kann, weil er abgeschlagen wurde, mitten in der Zeit der Blüte?

Wo war der Vater? Es gab kein Grab, in dem sie ihn wußte, keinen Ort, an dem sie still stehen und sagen konnte: „Hier liegt er!“ Es blieb nur diese schmerzliche Leere. Etwas war für immer verloren, bevor sie es als ihr Eigenes endecken konnte. Eine Beziehung hatte begonnen und war abgebrochen. Keiner konnte den leeren Platz neu besetzen.  Einmaliges hat keine Nachfolge.

 

Anderer Vater

Dann begegneten ihr Menschen, die ihr von einem anderen Vater erzählten, der sagte: Du bist auch mein Kind! Ich habe dich lieb. Für dich habe ich meinen Sohn hergegeben, damit er dir deine Schuld, deine Tränen und deine Verlorenheit abnimmt.

Da war sie plötzlich wieder, diese Geborgenheit, die sie so viele Jahre gesucht hatte. Nur jetzt war es noch mehr, wie ein beglückendes Nachhausekommen, ein Ausatmen, Ausruhen. Da sorgte sich einer um sie, mit einer Liebe, zu der kein Mensch fähig ist.

Er hatte sie gekannt, bevor es sie gab. Und schon damals wusste er alles über ihr Leben. Ihm war nichts verborgen. Er war es auch, der zugelassen hatte, dass man ihr den Vater wegnahm. Warum? Wer als einziger den Weg kennt, muss sich nicht rechtfertigen.

Heute weiss sie, dass sie einmal die Antwort finden wird. Da wo alle Fragen enden.

Dr. Irmhild Bärend für GottinBerlin