Ruhe und Frieden

Nicht weit vom Ufer des Flusses erhoben sich die mächtigen Felsen. Steil stiegen die rissigen, verschachtelten Wände nach oben. Zu ihren Füßen lag der Hof, eingebettet in eine Mulde. Das Bergmassiv umgab ihn wie eine Burg. Nur schwer fand man den Zugang. Zu einsam lag das Gehöft. Wer jedoch einmal dort gewesen war, kam immer wieder. Die Schönheit dieser noch unberührten Landschaft, schenkte Ruhe und einen Frieden, nachdem sich viele sehnten.

Langer Fußmarsch

Jemand hatte ihm von diesem Ort der Stille erzählt und er war neugierig geworden. Dort wollte er einige Wochen verbringen, auftanken, Luft holen. – Der Zug hatte Verspätung. Als der junge Mann die kleine Bahnstation verließ, war es bereits Abend. Um diese Zeit des Jahres wurde es schon früh dunkel. Er wußte, dass er noch einen langen Fußmarsch vor sich hatte. Trotzdem machte er sich auf den Weg. Man hatte ihm eine Skizze geschickt und geschrieben, er brauche nur dem deutlich eingezeichneten Pfad zu folgen. Dann könne er das Schild gar nicht verfehlen, das den Zugang zum Hof markiere. Doch warnend hieß es weiter, er solle immer auf den Fluss achten. Sobald er ihn aus den Augen verlöre, könne es gefährlich werden, schon mancher habe sich verirrt.

Richtiger Weg?

Der junge Mann schritt weit aus. Bald konnte er die Umgebung jedoch kaum noch erkennen. Der Mond ging auf und Bäume und Büsche warfen lange Schatten. Nachdem er eine ganze Weile unterwegs war, wurde ihm unheimlich. Wieder und wieder drehte er sich um. Befand er sich überhaupt auf dem richtigen Weg? Das breite Band des Flusses, der auf den ersten Kilometern noch gut zu sehen war, hatte sich inzwischen in ein riesiges schwarzes Meer verwandelt. Und die Felsen? Führte der Pfad überhaupt noch um sie herum? Kamen sie nicht immer näher? Unsicher blieb er stehen. Angst kletterte in ihm hoch. Wohin nur? Wohin?

Er war gerettet

Da hörte er seinen Namen. Laut warfen die Felswände das Echo zurück. Zuerst dachte er, er habe sich das nur eingebildet und seine überreizten Nerven spielten ihm einen Streich. Aber da war sie wieder, diese Stimme, irgendwo aus der Tiefe rief jemand nach ihm. Ja, wirklich, der da unten kannte seinen Namen. Laut schrie er zurück: „Hier bin ich. Hier!“ Es dauerte nicht lange und er hatte mit Hilfe des Unbekannten, der ihn von weitem behutsam dirigierte, zurück auf den Pfad gefunden und schließlich auch das Schild entdeckt, das zum Gehöft führte. Tief aufatmend sah er die Lichter, die ihm über das letzte Stück Weg entgegen leuchteten. Er war gerettet.

Gefährliche Klippen

Am nächsten Tag versuchten sie gemeinsam, die Stelle ausfindig zu machen, an der der Besucher seinen Namen gehört hatte und stehengeblieben war. Als sie sie gefunden hatten, sahen sich beide erschrocken an. Hoch über ihnen befand sich eine riesige überhängende Felsplatte. Darunter war nur schroffes Gestein, das viele Meter nach unten senkrecht abfiel. Wäre der junge Mann nur wenige Schritte weitergegangen, hätte er den Boden verloren und wäre in die Tiefe gestürzt.

Weg verloren?

Nur ein Gang durch die Nacht? Nur einer, der den Weg verloren hat? Wie viele stolpern durch die Dunkelheit und wissen nicht mehr weiter. Versteinert vor Angst, ratlos und verzweifelt hören sie nicht mehr die Stimme, die ihnen liebevoll folgt und sagt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein!“ Wer ist der, der mich so genau kennt? Der mir immer wieder nachgeht, obwohl ich ein Leben lang vor ihm weggelaufen bin? Der mich in seiner Nähe haben und für mich sorgen will? Einer, der als einziger sagen kann: „Ich wußte bereits von dir, bevor du in den Leib deiner Mutter gelegt wurdest.“ Ich bin der, der dir das Leben gegeben hat. Niemand kennt dich so gut wie ich. Darum gehörst du auch nur zu mir. vor mir darfst du alles ausbreiten, das du vor anderen verbirgst.

Wohin du dich auch verirrt hast

Hier sind meine Hände. Ich strecke sie dir entgegen. Dein Name ist darin eingegraben. Wie schwer auch deine Schuld ist, wirf sie vor mir nieder. Wohin du dich auch verirrt hast, komm zurück. Ich will dich vor dem Abgrund retten. Ich rufe dich und warte, dass du antwortest, dass du Ja sagst: „Ja, hier bin ich, mit dem ganzen Müll meines Lebens. An dich will ich glauben, Gott, dir folgen. Ja, ich will. Ja!“

Dr. Irmhild Bärend für GottinBerlin.de