Vergessen?

Viele Behinderte – und ich rede jetzt in erster Linie von Körperbehinderten (nicht aus Abwertung gegenüber geistig Behinderten, sondern weil ich mich damit nicht so gut auskenne) – fühlen sich nicht nur von den gesunden, leistungsstarken Menschen an den Rand der Gesellschaft verdrängt, sondern auch von Gott vergessen.

Menschen, die gläubig sind, tut das besonders weh. Aber was sollen sie anderes denken, wenn sie in der Bibel lesen, dass Jesus alle Kranken, die zu ihm gebracht wurden, geheilt hat? Wenn sie viele Male für sich haben beten lassen, und es hat sich gar nichts verändert an ihrem körperlichen Zustand?

Ist Gott sauer auf mich? Hab ich irgend etwas verbrochen oder meine Eltern, dass es mir so viel schlechter geht als anderen? (siehe Johannes 9, 1 ff)

Gottes Herrlichkeit

Jesus wurde genau das von seinen Jüngern gefragt. Und er gab eine seltsame Antwort: Nicht er oder seine Eltern haben etwas getan, sondern es geschieht, um Gottes Herrlichkeit zu zeigen.

Hmmm? Ich fühle mich nicht so herrlich, wenn alle in der Runde über einen Witz lachen, den ich nicht verstanden habe. Oder wenn eine, die traurig ist, mir zuflüstert, warum, und ich nicht auf sie eingehen kann, weil ich sie nicht verstanden habe.

Eine Rollstuhlfahrerin fühlt sich vermutlich auch nicht so herrlich, wenn sie vor einem öffentlichen Gebäude mit Treppe steht, in das sie hinein möchte. (Ich weiß, hinten herum und mit Schlüssel vom Pförtner gibt es dann doch eine Möglichkeit, oder im Lastenaufzug, sehr wunderbar…) also, was soll das alles mit der Herrlichkeit für Behinderte?

Was hat Jesus gemeint?

War nur die Situation damals gemeint, als Jesus diesen Behinderten danach geheilt hat? Oder können wir diese biblische Aussage allgemeiner und auf uns heute bezogen sehen?

Ich wage es, mal über Gottes Herrlichkeit bei Körperbehinderung nachzudenken, bitte springt mir nicht ins Gesicht!

Zunächst fällt mir auf in meiner unmittelbaren Umgebung, dass ich, meine Verwandten und Freunde mit Körperbehinderungen der verschiedensten Art etwas gemeinsam haben: sie haben einen Menschen an der Seite, der oder die sich um sie kümmert. Also ich meine: nicht betuttelt, sondern da hilft, wo es notwendig ist, das ergänzt, was fehlt, und insgesamt total gut zu dem körperbehinderten Partner/ Kind/ Freund hält.

Da ist mehr als sonst zwischen den Menschen. Da ist echter praktischer Einsatz, Zusammenhalten, Treue, Zuverlässigkeit angesagt. Und andere gucken hin und fragen: „Wie packen die denn das nur?“

Gegenseitig geben

Sie packen es, weil beide sich gegenseitig etwas geben. Beide brauchen einander; der Behinderte meist praktisch, aber auch seelisch, Ermutigung und Unterstützung, der Gesunde weiß sicher, dass er gebraucht und anerkannt wird, und das gibt ihm eine starke Bestätigung, ein echtes Selbstwertgefühl, das nicht auf Meinungen, sondern auf Taten aufbaut.

Also, das klingt jetzt so theoretisch. Ich wollte es nur auseinander klamüsern. Praktisch ist es ganz einfach: Was den Behinderten und seinen Partner oder Freund zusammenbindet, ist Wertschätzung, Freundschaft, Liebe.

Wie Leben mit Behinderung gelingt

Behinderte, deren Leben gelingt, die aus ihrem Leben etwas machen können, haben nach meiner Beobachtung eigentlich immer solch einen Partner an der Seite.

Oder andersherum gesagt: Behinderung fordert heraus zur Liebe. Das zu ergänzen, was fehlt, zu helfen, aber andersherum auch: bestätigt zu werden.

Gottes Herrlichkeit

Um auf Gottes Herrlichkeit zurück zu kommen: Die Behinderung selbst ist gar nicht herrlich, sondern schmerzhaft, behindernd, traurig machend. Aber wenn sie Liebe und Gegenliebe hervorruft, lässt sich durchaus Gottes Herrlichkeit sehen. Und dann wird dieses merkwürdige Wort der Bibel wahr: „meine (Gottes) Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Welche Kraft denn?

Natürlich die Liebe: Liebe hat eine enorme, starke, jede Schwierigkeit überwindende Kraft. Und Gott sagt, dass ER die Liebe ist. Gottes Kraft mitten in der Schwäche? In Schmerzen? Im Nicht-mehr-Können- Gefühl? Ja!

Sinn von Behinderung

Wir haben in einer Runde behinderter Freunde diskutiert, welchen Sinn Behinderung machen könnte. Unser gemeinsames Ergebnis war: Liebe herauszufordern. Menschen in Liebe zu trainieren.

Nehmen wir einmal an, diese Zeit hier auf der Erde wäre Gottes Trainingszeit für uns, Liebe zu lernen. Dann machten doch auf einmal Unfälle, Geburt behinderter Kinder, all das, was uns erst mal nur schrecklich und grausam erscheint, Sinn, oder?

Dagmar Kugler für GottinBerlin